Kassenärztliche Bundesvereinigung|19.10.2023

STATEMENT

Aktuelle Situation der freiberuflichen Heilberufe in Deutschland

Berlin (kkdp)·Statement von Dr. Andreas Gassen (Vorstandsvorsitzender der KBV) auf einer gemeinsamen Pressekonferenz der ABDA, KZBV und KBV

Sehr geehrte Damen, sehr geehrte Herren,

wir erleben derzeit ein Ausmaß an Frust und Wut in den ärztlichen und psychotherapeutischen Praxen wie seit Jahrzehnten nicht. Selbst während der Corona-Pandemie, die ein besonderer Stresstest war, war die Stimmung nicht so angespannt wie heute.

Weit mehr als die Hälfte der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte bewerten ihre berufliche Situation aktuell als schlecht. Das belegen diverse Umfragen sowie zahllose Berichte, die uns als Kassenärztliche Bundesvereinigung in den vergangenen Monaten erreicht haben. Die Gründe für die Krise sind mittlerweile Legion, weshalb ich hier nur ein paar herausgreife.

Wesentlich ist unter anderem die seit Jahren nicht ausreichende Finanzierung ärztlicher und psychotherapeutischer Leistungen, wodurch die enorm gestiegenen Kosten in den Praxen nicht aufgefangen werden können.

Ein Beispiel: In den letzten fünf Jahren sind die Preise für Krankenhausleistungen, ohne die zusätzlichen Fördermilliarden, um 13,5 Prozent gestiegen - die der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte um lediglich sechs Prozent.

Dieser Wert lag damit sogar deutlich unter der seit knapp zwei Jahren galoppierenden Inflationsrate. Im gleichen Zeitraum sind die Personalkosten in den Praxen aber um 16,7 Prozent gestiegen. Viele Praxen sind nicht mehr in der Lage, ihrem dringend benötigten Personal angemessene Konditionen zu bieten, viele Medizinische Fachangestellte wandern ab, beispielsweise in die Kliniken.

Zweiter Grund: das Übermaß an Bürokratie in den Praxen. Im Schnitt verbringt eine Praxis mehr als 61 Arbeitstage im Jahr mit bürokratischen Pflichten, das sind 61 Tage, die in der Patientenversorgung fehlen. Viele dieser Aufwände wären vermeidbar oder zumindest deutlich zu reduzieren. Konkrete Vorschläge der KBV hierzu liegen Minister Lauterbach vor.

Dritter Grund: Eine Digitalisierung, die die Praxen mehr Geld kostet, als sie erstattet bekommen, die nach wie vor mehr Arbeit macht, als dass sie entlastet und die die Abläufe in der Patientenversorgung oft hemmt oder sogar ganz zum Erliegen bringt.

Ich könnte viele weitere Beispiele nennen; die drängendsten Probleme - und im Übrigen auch konkrete Vorschläge für deren Lösung - haben wir in den vergangenen Monaten immer wieder an das Bundesgesundheitsministerium und Herrn Lauterbach herangetragen.

Deshalb sitzen wir drei heute hier: Wir sehen, dass die ambulante Versorgung in Deutschland gegen die Wand fährt. Diejenigen, die das Steuer herumreißen könnten, nämlich der Bundesgesundheitsminister und die Bundesregierung, schauen tatenlos zu - ja, sie treten teilweise sogar noch aufs Gaspedal.

Krankenhäuser und deren Existenzsicherung sind in aller Munde, dabei wird völlig übersehen, welche Rolle die Praxen in der Versorgung spielen und wie desolat die Situation dort ist. Zum Vergleich: Die Praxen versorgen 578 Millionen Fälle im Jahr, in den Krankenhäusern sind es derzeit 16,8 Millionen pro Jahr.

Die Ausgaben für den stationären Bereich steigen, obwohl die Zahl der dort behandelten Patienten seit Jahren sinkt. Gerade haben die Länder weitere fünf Milliarden Euro Unterstützung für die Kliniken gefordert, zusätzlich zu den bereits beschlossenen sechs Milliarden Euro zum Ausgleich gestiegener Energiekosten. Das wären dann insgesamt 654 Euro Subventionen pro Krankenhausfall (das entspräche einem Subventionsplus von 16,4%).

Klar ist: Leistungsfähige Krankenhäuser sind ein unverzichtbarer Teil der Gesundheitsversorgung und müssen auch ausreichend finanziert werden. Aber die Menschen gehen normalerweise nicht regelmäßig ins Krankenhaus, sehr wohl aber in die Apotheke, zum Haus- oder Facharzt oder in die zahnärztliche Praxis. Deshalb sitzen wir hier als Repräsentanten einer Versorgung, die Millionen Mal jeden Tag von den Menschen nachgefragt und als selbstverständlich angesehen wird. Deshalb ist der Erhalt dieser Strukturen mindestens genauso wichtig.

Noch haben wir rund 100.000 selbstständige Praxen in Deutschland mit 185.000 Ärztinnen und Ärzten, Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten. Allein in den ärztlichen Praxen arbeiten insgesamt 731.000 Menschen.

Nicht nur die Praxismitarbeiterinnen und -mitarbeiter sind ausgebrannt. Die selbstständige Tätigkeit in eigener Praxis gilt bei der nachwachsenden Ärztegeneration als berufliches Risiko. Und nicht nur das: Auch die aktuell tätigen Kolleginnen und Kollegen hadern massiv mit den Rahmenbedingungen.

Heute (19. Oktober) startet eine weitere bundesweite Befragung der niedergelassenen Ärzte und Psychotherapeuten. Darin wird es um die Einschätzung ihrer beruflichen und wirtschaftlichen Situation gehen, um eine Bewertung der politischen Perspektiven und um mögliche Konsequenzen, welche die Praxisinhaber daraus ziehen.

Wir wissen, dass viele von ihnen schon jetzt die Notwendigkeit sehen, ihr Leistungsangebot einzuschränken. Minister Lauterbach hat seinerzeit versprochen, unter ihm werde es keine Leistungskürzungen geben. Tatsächlich gibt es diese Leistungskürzungen aber bereits, und seine ganze Politik tut alles, die ambulanten Strukturen mit selbstständigen Freiberuflern als Rückgrat der Versorgung zu zerstören.

Wir als freie Heilberufe erleben einen zuständigen Minister, dessen bevorzugte Fortbewegung die Rolle rückwärts ist und der einen inhaltlichen Diskurs verweigert. Er hält sich nicht an seine eigenen Versprechen, reagiert weder angemessen auf Bitten noch auf Forderungen und auch nicht auf Zahlen und Fakten.

Deshalb sehen wir keine andere Möglichkeit, als uns an die Bevölkerung zu wenden und sie über die absehbaren Folgen dieser Politik aufzuklären. Denn am Ende sind es die Menschen, die Patientinnen und Patienten, die von Ärztemangel, Leistungskürzungen, Praxis- und Apothekenschließungen betroffen sein werden. Ohne schnelle politische Kurskorrekturen wird es zu deutlich spürbaren Verschlechterungen in der Versorgung kommen.

Weil der zuständige Minister das nicht sehen kann oder will, appellieren wir an den Bundestag und auch an Bundeskanzler Olaf Scholz: Treten Sie auf die Bremse und stoppen Sie diese verheerende gesundheitspolitische Entwicklung!

Ermöglichen Sie eine sachliche Auseinandersetzung und sichern Sie die Zukunft der ambulanten Versorgung. Die freien Heilberufe sind offen für konstruktive Vorschläge - dem drohenden Kahlschlag der Versorgung werden wir hingegen nicht tatenlos zusehen.

Vielen Dank

(Es gilt das gesprochene Wort)

Pressekontakt:

Kassenärztliche Bundesvereinigung
Roland Stahl, Pressesprecher
Tel.: (0 30) 40 05 - 22 01
Fax: (0 30) 40 05 - 22 90
RStahl@kbv.de


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