IKK e.V.|29.08.2024
PRESSEMITTEILUNG
Abfluss von Beitragsgeldern stoppen: Rechte der Krankenkassen und der Selbstverwaltung jetzt stärken!
Zunehmend wälzt die Politik die Kosten für gesamtgesellschaftliche Aufgaben auf die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) und damit auf die Versicherten und Arbeitgeber ab. Hierdurch sowie durch Leistungsausgaben steigernde, teure Gesetze der letzten und dieser Legislaturperiode gerät die GKV finanziell immer weiter unter Druck. Erschwerend kommt hinzu, dass angekündigte Maßnahmen, allen voran der Transformationsfonds zur Krankenhausreform, als verfassungswidrig erachtet werden. Die steigenden Beiträge werden für Versicherte und Arbeitgeber zunehmend untragbar. Deshalb müssen Krankenkassen mit eigenen Rechten ausgestattet werden, damit sie sich im Interesse ihrer Beitragszahlenden gegen staatliche Übergriffe wirksam vor Gericht zur Wehr setzen können. Dieses Fazit ziehen die Innungskrankenkassen im Rahmen ihrer heutigen Pressekonferenz in Berlin. Einig sind sich die Innungskrankenkassen und Prof. Dr. Rainer Schlegel, Präsident des Bundessozialgerichts a.D., dass eine Stärkung des rechtlichen Status der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) und der Selbstverwaltung dringend notwendig ist. Obwohl die Krankenkassen Treuhänder für die Versichertenbeiträge sind, sind ihnen gegenüber der Politik die Hände gebunden. Das muss sich dringend ändern.
Finanzlage der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV)
Schon Ende 2023 hat sich gezeigt, dass die Annahmen des Schätzerkreises zur finanziellen Entwicklung in 2024 zu optimistisch waren. Der durchschnittliche Zusatzbeitragssatz hätte um 0,2 Prozentpunkte höher ausfallen müssen. Dadurch laufen die Kassen automatisch in eine Unterfinanzierung. Auch das erste Halbjahr 2024 zeichnet sich durch eine stark steigende Ausgabenentwicklung bei stagnierender Einnahmesituation aus. Dabei sind die noch benötigten Milliarden für die von Minister Lauterbach angekündigten Reformvorhaben, insbesondere im Krankenhaussektor, noch nicht eingerechnet.
"Der Handlungsdruck, um auch künftig unser stabiles, leistungsfähiges und hochwertiges Gesundheitssystem zu erhalten, ist enorm hoch", erklärt Hans-Jürgen Müller, Vorstandsvorsitzender des IKK e.V. "Wir verstehen nicht, dass die im Koalitionsvertrag angekündigten und schon lange überfälligen Maßnahmen, wie die Dynamisierung des Bundeszuschusses für versicherungsfremde Leistungen oder die Erhöhung des Beitrags für Bürgergeld-Beziehende, in dieser Legislatur absehbar nicht mehr umgesetzt werden." Schon das GKV-Finanzstabilisierungsgesetz hat die finanziellen Probleme vor allem auf die Beitragszahlenden verschoben statt gelöst und das Bundesgesundheitsministerium (BMG) hat die vom Gesetzgeber eingeforderten Maßnahmen für eine nachhaltige Finanzierung vage auf "wirtschaftlich bessere Zeiten" vertagt. "Verloren gegangene Steuerungsinstrumente wie Krankenhausabrechnungsprüfungen oder Budgetierungen binden unsere Hände und leeren die Haushalte der Kassen weiter", erläutert Müller. Dabei lägen konstruktive Vorschläge zur Stabilisierung der Finanzlage vor, auch von den Innungskrankenkassen, etwa die Abkehr vom alleinigen Lohnkostenmodell durch Beteiligung der Digital- und Plattformökonomie oder die Umwandlung von sogenannten Genusssteuern in eine Abgabe.
Eingriffe in den Gesundheitsfonds
Die Innungskrankenkassen kritisieren, dass die Politik sich zum Stopfen von Finanzlöchern an den Finanzreserven der Kassen bzw. am Gesundheitsfonds bedient und in steigendem Maße gesamtgesellschaftliche Kosten auf die Solidargemeinschaft abwälzt. Allein die Unterfinanzierung der auf die GKV übertragenen Aufgabe der Gesundheitsversorgung der Bürgergeld-Beziehenden reißt jährlich eine Lücke von 9 Milliarden Euro in die Haushalte der GKV, rechnet Hans Peter Wollseifer, alternierender Vorstandsvorsitzender des IKK e.V., vor. Er weist zudem auf den Krankenhausstrukturfonds hin, der bis Ende 2024 über den Gesundheitsfonds mit bis zu einer Milliarde Euro pro Jahr finanziert wird. Als jüngstes Beispiel benennt Wollseifer den geplanten Transformationsfonds im Rahmen des Krankenhausversorgungs-Verbesserungsgesetzes (KHVVG). Hier sollen über den Zeitraum von zehn Jahren 50 Milliarden Euro von Bund und Ländern zum Umbau und zur Modernisierung der Krankenhauslandschaft eingesetzt werden. Der Bund will sich aber seinen Teil über den Gesundheitsfonds finanzieren lassen. "Die gesetzlich Versicherten und deren Arbeitgeber finanzieren somit aus Beitragsgeldern den Transformationsfonds, obwohl der Auf- und Umbau der gesundheitlichen Infrastruktur eindeutig eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist", erläutert Wollseifer. Der Vorstandsvorsitzende gibt zu bedenken, dass Verfassungsrechtler deshalb das Konstrukt des Transformationsfonds als verfassungswidrig ansehen.
Der IKK e.V.-Vorstand bilanziert: "Es ist dringend notwendig, dem verfassungsrechtlichen Grundsatz, dass Sozialversicherungsbeiträge das Binnensystem der Sozialversicherung nicht verlassen dürfen, Geltung zu verschaffen. Beitragsgelder sind kein Notgroschen für das Regierungsportemonnaie, sondern sie dienen zur Sicherstellung der Versorgung der Versicherten!"
Im Übrigen sehen das die Versicherten ebenso, weiß Wollseifer. Laut aktueller forsa-Umfrage, die der IKK e.V. in Auftrag gegeben hat, meint die klare Mehrheit der Befragten (67 %), dass die Krankenkassenbeiträge ausschließlich zweckgebunden für Leistungen der Krankenkassen an ihre Versicherten verwendet werden sollten. In diesem Zusammenhang fordern auch drei Viertel der Befragten (74 %), dass den Kassen als Treuhänder der Beitragsgelder gegen die Zweckentfremdung dieser Gelder für gesamtgesellschaftliche Ausgaben ein Klagerecht eingeräumt werden sollte.
Krankenkassen müssen sich wehren können
Dem stimmt auch Prof. Dr. Rainer Schlegel, Präsident des Bundessozialgerichts a.D., zu: "Krankenkassen müssten auch die Befugnis haben, vor dem Bundesverfassungsgericht die Verfassungsmäßigkeit gesetzgeberischer Maßnahmen prüfen zu lassen, wenn die Möglichkeit einer Zweckentfremdung von Beitragsmitteln im Raum steht." Schlegel verweist auf Universitäten und Rundfunkanstalten, bei denen es anerkannt ist, dass sie vor dem Bundesverfassungsgericht klagen können. Nichts anderes sollte für Krankenkassen gelten, wenn es um die Belange ihrer Versicherten geht.
Der Jurist geht aber noch einen Schritt weiter und fordert: "Die besondere Stellung der Träger der Sozialversicherung als Treuhänder ihrer Mitglieder sollte klar herausgestellt werden - Art. 87 Abs. 2 Grundgesetz sollte daher um einen Satz zur Satzungsautonomie ergänzen werden." Er erläutert: Das Grundgesetz habe bereits die grundlegende Entscheidung getroffen, dass die Sozialversicherung als mittelbare Staatsverwaltung ausgestaltet sei. Zur Selbstverwaltung gehöre aber auch eine substanzielle Autonomie der Versicherten, ihrer Träger sowie ihrer Organe. Schlegel weiter: "Es ist angesichts der heutigen Bedeutung der Sozialversicherung, ihres Finanzvolumens und nicht zuletzt ihrer Funktion als ´Garant des sozialen Friedens´ in Deutschland, nicht mehr angemessen, im Selbstverwaltungsgrundsatz lediglich eine innerstaatliche Organisationsform der Dezentralisation zu erblicken." Auch zur Demokratieförderung und -stärkung sei das Prinzip der Selbstverwaltung grundgesetzlich zu verankern, so Schlegel.
Prof. Dr. Schlegel ist sich sicher, dass schlussendlich eine gestärkte Selbstverwaltung einen wichtigen Beitrag zur Akzeptanz und zur Nachhaltigkeit der Sozialversicherungssysteme leisten werde.
Appell an die Politik
Die Innungskrankenkassen sehen hinsichtlich der Finanzierung des Gesundheitswesens sowie auch der rechtlichen Stärkung der gesetzlichen Krankenkassen und der Selbstverwaltung dringenden Handlungsbedarf seitens der Politik. "Wir fordern den Gesetzgeber auf, die Finanzierung der gesetzlichen Krankenkassen grundlegend zu reformieren. Hierbei ist es wichtig, die Kassen stärker in Reformprozesse einzubeziehen und ihnen mehr Gestaltungsspielraum sowie Prüfmöglichkeiten für die solidarisch verwalteten Mittel einzuräumen, um im Interesse der Beitragszahler - Versicherte und Arbeitgeber - effizient mit den Finanzmitteln umgehen zu können. Die Kosten- und Beitragsspirale kann nur gestoppt werden, wenn auch die oft inflationäre Inanspruchnahme von Leistungen künftig besser gesteuert wird. Diese führt Jahr für Jahr zu teils hohen und vermeidbaren Kosten für die GKV und ihre Versicherten sowie Betriebe. Hierzu braucht es auch mehr Gesundheitskompetenz innerhalb der Bevölkerung", sagt Prof. Dr. Jörg Loth, Vorstandsvorsitzender der IKK Südwest. Und weiter: "Wir appellieren an die Politik endlich ihrer Verantwortung nachzukommen, um tragfähige Lösungen gemeinsam mit den Beteiligten zu entwickeln, die ein zukunftsfähiges Gesundheitssystem sicherstellen."
Es geht hier ja nicht nur um das Gesundheitswesen, sondern um das Vertrauen in die Politik und die Handlungsfähigkeit des Staates. Denn damit steht es aktuell nicht zum Besten. Die aktuelle forsa-Umfrage zeigt: Die Zufriedenheit mit der Gesundheitspolitik bleibt auf niedrigem Niveau. Nur rund zwei Fünftel der Befragten (39 %) zeigen sich mit der Gesundheitspolitik der Regierung zufrieden. Hier zeigt sich im Kleinen, was vermutlich auch für die große politische Bühne gilt: Das Vertrauen in die Politik schwindet. Dabei wäre gerade jetzt angesichts des Rechtsrucks und mit Blick auf die anstehenden Landtagswahlen die Stärkung von Vertrauen in Politik und Demokratie so notwendig, sind sich die Innungskrankenkassen sicher.
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