Versicherungsfremde Leistungen

Studie: Staat finanziert eigene Aufgaben mit knapp 60 Milliarden Euro pro Jahr aus GKV-Beitragsgeldern

15.10.2024·Der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) werden immer mehr Aufgaben zugewiesen, die Kernaufgabe des Staates sind. Das treibt die Kassenbeiträge um 2,54 Beitragssatzpunkte in die Höhe: Der GKV-Beitragszahler wird mit 740 Euro pro Jahr im Durchschnitt belastet. Würden die "versicherungsfremden Leistungen" ordnungspolitisch richtig finanziert, könnte der Zusatzbeitragssatz der Krankenkassen rechnerisch vollständig entfallen und die Lohnnebenkosten würden deutlich gesenkt.

Die GKV muss immer mehr Aufgaben erfüllen, die versicherungsfremd sind und aus dem Steueraufkommen finanziert werden müssten. Dies ist ein Ergebnis einer von
© IKK GESUND PLUS
der IKK gesund plus in Auftrag gegebenen Untersuchung zur Identifizierung und Quantifizierung von versicherungsfremden Leistungen in der GKV. Bei den 305,3 Milliarden Euro umfassenden Ausgaben des Gesundheitsfonds schlagen die versicherungsfremden Leistungen, die durch Krankenkassen und den Fonds getragen werden, für das Jahr 2023 mit 59,8 Milliarden Euro zu Buche, hat das Leipziger Forschungsinstitut für Gesundheitsökonomie und Gesundheitssystemforschung, WIG2, errechnet. Dies entspricht 2,54 Beitragssatzpunkten bei einem durchschnittlichen Beitragssatz von 16,3 Prozentpunkten. Für die Versicherten mit durchschnittlichem Einkommen werden dafür 740 Euro ihrer Beiträge pro Jahr verbraucht.

Ungenierter Zugriff auf Versichertengelder

Uwe Deh, Vorstandsvorsitzender der IKK gesund plus: "Das WIG2-Gutachten belegt mit nüchternen Fakten zwei Entwicklungen: Die Ausgaben für versicherungsfremde Leistungen sind stark gestiegen und der Fantasie beim ungenierten Zugriff auf Versichertengelder sind keine Grenzen gesetzt. Das treibt die Zusatzbeiträge in ungekannte Höhen, ist ordnungspolitisch unsauber, volkswirtschaftlich gefährlich und gegenüber den Mitgliedern der GKV ungerecht." Allein im Zeitraum von 2016 bis 2023 sind die Belastungen der GKV für die nicht von den Ländern übernommene Refinanzierung der Investitionen in die Krankenhäuser um rund 45 Prozent von 2,6 Milliarden auf 3,8 Milliarden Euro gestiegen. Für die Bezuschussung von Bürgergeldempfängern durch die GKV haben die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen für das Jahr 2022 einen Betrag von 9,2 Milliarden Euro identifiziert. Zu den versicherungsfremden Aufgaben, die seit 2016 dazu gekommen sind, zählen etwa die Digitalisierung des deutschen Gesundheitssystems sowie auch die Aus- und Weiterbildung von Pflegefachkräften.GKV wird immer stärker für infrastrukturelle Aufgaben herangezogen

Damit setzt sich ein Trend fort: Die GKV wird immer stärker für infrastrukturelle, gesamtgesellschaftliche Aufgaben, die der Allgemeinheit zugutekommen, herangezogen. Allein die Einrichtung und der Betrieb der staatlichen Telematikinfrastruktur, die elektronische Gesundheitskarte sowie die elektronische Patientenakte werden mit 1,3 Milliarden Euro pro Jahr von der Versichertengemeinschaft der GKV finanziert. Die gematik als verantwortliche Gesellschaft vereint dabei viele Akteure und hat eine Schlüsselrolle bei der Digitalisierung inne. Doch trotz ihrer gesamtgesellschaftlichen Aufgabe wird sie fast ausschließlich aus GKV-Mitteln finanziert. Die Finanzierungslast verteilt sich dabei zu 93 Prozent auf die GKV, während die PKV die übrigen 7 Prozent der entstehenden Kosten trägt", so die Autoren der Studie. Weitere Beispiele sind etwa die Bereitstellung von Mitteln für die Förderung der Versorgungsforschung durch den Innovationsfonds (200 Millionen Euro), den Ausbau der notdienstärztlichen Strukturen (37 Millionen Euro) oder pauschale Zuschläge für bedarfsnotwendige Krankenhäuser im ländlichen Raum (68 Millionen Euro).

Refinanzierung durch den Bundeszuschuss bei weitem nicht ausreichend

Der Bundeszuschuss hält dabei mit dem Aufwuchs an Aufgaben nicht Schritt und wurde dieses Jahr sogar auf 14,5 Milliarden Euro abgesenkt. Dr. Thomas Höpfner, Geschäftsführer WIG2: "Mit dem Gesundheitsmodernisierungsgesetz von 2003 ist erstmals ein pauschaler Bundeszuschuss für versicherungsfremde Leistungen eingeführt worden. Er sollte zumindest teilweise eine Kompensation leisten. Wir zeigen mit unserer Untersuchung, dass der Bundeszuschuss bei weitem nicht reicht. 16,6 Milliarden pauschaler Bundeszuschuss für das Versicherungsjahr 2023 stehen Ausgaben an versicherungsfremden Leistungen von 59,8 Milliarden gegenüber. Damit ergibt sich eine Unterfinanzierung von 2,54 Beitragssatzpunkten, was einem Betrag von 43,2 Mrd. Euro entspricht - Tendenz zunehmend." Uwe Deh ergänzt: "Wenn der Staat seine Aufgaben immer mehr auf die Krankenkassen abwälzt, dann belastet das die arbeitende Mitte, also Menschen mit unterem und mittlerem Einkommen. Menschen mit höherem und hohem Einkommen werden verhältnismäßig wenig herangezogen. Die hohen Sozialabgaben mutieren so zum Stimmungskiller für die Konjunktur am Standort Deutschland. Deswegen sollte dringend wieder eine ordnungspolitisch korrekte Ausgabenfinanzierung angestrebt werden. Die richtige Finanzierungsquelle für Staatsaufgaben ist und bleibt der Bundeshaushalt, aber auch Länderhaushalte und die Gemeinden stehen mit ihren Steuermitteln in der Pflicht. Die Beitragsgelder der Krankenversicherung müssen wieder originär für Gesundheits- und Versorgungsleistungen verwendet werden."


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